Verlorener Zwilling und

vorgeburtliche Zeit

Die Kraft des Ursprungs

In der psychologischen und psychotherapeutischen Forschung wird der pränatalen Phase – also der Zeit, in der sich ein Kind im Mutterleib entwickelt – zunehmend Bedeutung beigemessen. Immer mehr Erkenntnisse deuten darauf hin, dass diese frühe Lebenszeit einen nachhaltigen Einfluss auf die emotionale und körperliche Entwicklung eines Menschen haben kann.

Während der Schwangerschaft besteht zwischen Mutter und Kind ein intensiver Austausch. Über den gemeinsamen Blutkreislauf und feine zelluläre Prozesse sind beide Organismen eng miteinander verbunden. Das ungeborene Kind nimmt die Gefühle und Stimmungen seiner Mutter wahr, reagiert auf ihre Zuwendung und erkennt ihre Stimme. Es erlebt sowohl Momente von Geborgenheit und Freude als auch Phasen von Anspannung oder Angst, die aus dem Lebensumfeld der Mutter entstehen können.

Darüber hinaus zeigen Forschungen, dass in Ei- und Samenzellen auch Informationen aus der Lebensgeschichte der Eltern gespeichert sein können – beispielsweise aus ihren frühen Erfahrungen oder familiären Prägungen. Diese Einflüsse werden bei der Zeugung weitergegeben und können sich im sogenannten vorsprachlichen Körpergedächtnis verankern. Auf diese Weise wirken sie oft unbewusst auf die spätere Lebensgestaltung, auf Beziehungserfahrungen und Verhaltensmuster des heranwachsenden Menschen.

Auch alte Kulturen erkannten die Bedeutung dieser frühen Phase. In indonesischen Heiltraditionen etwa gilt es als wesentlich, bei der Behandlung eines Kranken – unabhängig vom Alter – auch die vorgeburtlichen Erfahrungen zu berücksichtigen. Heilung entsteht hier im Verständnis der Heiler durch das bewusste Erkennen und Integrieren dieser frühen Prägungen.

Eine systemische Aufstellung, die den vorgeburtlichen Zeitraum einbezieht, kann helfen, die Auswirkungen emotionaler Belastungen während der Schwangerschaft – wie etwa Stress, einen Abbruchversuch oder den Verlust eines Zwillings – sichtbar zu machen und auf einer tieferen Ebene zu verstehen.

 

Zwillingsaufstellung weisse Blüten

 

Pränatale Aufstellungen – Heilung im Ursprung

Die systemische Aufstellungsmethode, im Einzel- oder Gruppensetting angewendet, eröffnet durch Selbsterfahrung den Zugang zu den frühesten Schichten unseres Erlebens – bis in die vorgeburtliche Zeit.

In einem geschützten Rahmen können unbewusste Zusammenhänge erkannt werden, die sich im späteren Leben als wiederkehrende Konflikte, Blockaden oder Widerstände zeigen. Besonders tiefgreifend kann sich der Verlust eines Zwillings in den ersten Wochen der Schwangerschaft auswirken – auch dann, wenn die Mutter diesen Verlust gar nicht bemerkt hat. Der überlebende Zwilling kann dieses Ereignis unbewusst als frühen Schock oder als Gefühl von Verlassenheit erleben. Spätere Lebensmuster wie Einsamkeit, depressive Tendenzen, Schwierigkeiten in Partnerschaften, Erfolglosigkeit oder das Gefühl, das Leben „nicht ganz annehmen zu dürfen“, können auf solche frühen Erfahrungen zurückgehen.

Durch die Arbeit mit einer Aufstellung wird es möglich, diesen verborgenen Prägungen zu begegnen, sie zu würdigen und in das eigene Leben zu integrieren. So entsteht neues Vertrauen – in das Leben, in sich selbst und in die eigene Lebenskraft. Menschen berichten danach häufig von einem Gefühl innerer Freiheit, Authentizität und einer größeren Beziehungsfähigkeit – vergleichbar mit einem inneren Neubeginn.

Aktuelle Forschungen aus der pränatalen Psychologie, der Embryologie und der Neurobiologie unterstützen diese Sichtweise. Die lange vertretene Annahme der „infantilen Amnesie“ – also der Vorstellung, dass frühe Erlebnisse vollständig vergessen werden – gilt heute als überholt. Auch wenn Erlebnisse aus der Embryonalzeit oder der Geburt nicht bewusst erinnert werden können, sind sie dennoch im Körper und im Nervensystem gespeichert. Diese vorsprachlichen Erinnerungen sind Teil des impliziten Gedächtnisses und können durch bestimmte Situationen, Klänge, Berührungen oder Emotionen unbewusst aktiviert werden.

So wird verständlich, warum Menschen manchmal starke Gefühle erleben, deren Ursprung sie nicht erklären können: „Ich weiß gar nicht, warum mich das so traurig macht … eigentlich geht es mir gut.“ In der Aufstellungsarbeit können solche Emotionen einen Raum bekommen, gesehen und integriert werden – ohne Bewertung, mit Achtsamkeit und Mitgefühl.

Das Thema „verlorener Zwilling und vorgeburtliche Zeit“ kann im Rahmen einer Familienaufstellung oder einer individuellen Sitzung achtsam und respektvoll angeschaut werden. Die Erfahrung zeigt, dass sich dadurch ein tieferes Verständnis für die eigene Lebensgeschichte und eine neue, stärkende Verbindung zum eigenen Ursprung entwickeln kann.